Freitag, 26. September 2008

Niveau ungenügend: Urteil des LG Görlitz gegen Totalen Kriegsdienstverweigerer liegt vor

Einen Richter in der Verhandlung zu erleben und sein schriftliches Urteil zu lesen, können manchmal zwei Paar Schuhe sein. Zwar hatte der Vorsitzende Richter am LG Görlitz, Böcker, vor und in der Hauptverhandlung klargemacht, dass er einen anderen strafprozessualen Stil pflegt, als sein "Vorgänger" am AG Zittau, Ronsdorf. Dass eine insgesamt ruhige und entspannte Verhandlungsführung aber nicht gleichzusetzen ist mit sich dahinter verbergender juristischer Brillianz, davon zeugt das nunmehr schriftlich vorliegende Urteil umso mehr...

Da ist zunächst einmal die Frage, warum die Sperrberufung der Staatsanwaltschaft nicht als unzulässig verworfen worden ist. Hierzu notiert Böcker zum einen, dass die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren keine verbindliche Wirkung hätten - dass diese Aussage eine Leeraussage hinsichtlich der zu diskutierenden Frage ist, hatten wir hier schon erörtert: Denn die Unzulässigkeit der Berufung ergibt sich nicht unmittelbar (nur) aus der Verletzung der RiStBV, sondern vor allem aus der Tatsache, dass das Rechtsmittel rechtsmissbräuchlich eingelegt worden ist. Die RiStBV geben allerdings (anhand sehr sinnvoller Kriterien) den Rahmen vor, in dem sich die Staatsanwaltschaft zu bewegen hat - wenn dieser verlassen wird, liegt zumindest der Verdacht der Rechtsmissbräuchlichkeit auf der Hand; im vorliegenden Fall konnte er ja sogar bewiesen werden. Aber was scheren solche feinen Differenzierungen einen Richter, der eben "nicht will"...

Dann wird Böcker fast lustig: Er kontrolliert doch noch einmal die Einhaltung der RiStBV (die er eben noch für irrelevant erklärt hatte) und sagt: Die RiStBV verbieten das Einlegen eines Rechtsmittels nur, wenn dies geschieht, weil die Gegenseite ein Rechtsmittel eingelegt hat. Aber, so der findige Richter, hier war es ja andersherum: Die Staatsanwaltschaft hatte ja zuerst Rechtsmittel eingelegt! Wäre es nicht so bitter, könnte man fast drüber schmunzeln. Denn wenn ein Verfahren so wie in Zittau abläuft, ohne jede Bindung an die Strafprozessordnung und losgelöst vom Gedanken des Rechtsstaats, dann dürfte es klar sein, dass der Angeklagte versuchen wird, hiergegen vorzugehen; dann aber muss die Staatsanwaltschaft nur vor dem Angeklagten Rechtsmittel einlegen, und schon kann sie sagen: 'Wir haben das ja gar nicht aufgrund des Rechtsmittels des Angeklagten gemacht, sondern zuerst, mithin vollkommen unabhängig vom Angeklagten!' Nun, wenn das Argument ziehen sollte, so käme das der Aufforderung an die Staatsanwaltschaften gleich, "erstmal" sehr schnell Rechtsmittel einzulegen, und dann die Rücknahme vom Verhalten des Angeklagten abhängig zu machen. Da genau dieses Verhalten - die Staatsanwaltschaft betreibt ein Rechtsmittel in Abhängigkeit vom Rechtsmittel des Angeklagten - aber durch den Passus in den RiStBV ausgeschlossen sein soll, muss der Text entsprechend ausgelegt werden: "Die Tatsache allein, dass ein anderer Beteiligter ein Rechtsmittel eingelegt hat, ist für den Staatsanwalt kein hinreichender Grund, das Urteil ebenfalls anzufechten oder eine Anfechtung aufrecht zu erhalten." Aber wozu auslegen, wenn das Ergebnis nicht mit dem schlichten Willen des Richters in Übereinstimmung zu bringen wäre...

Und schließlich, und hier wird's langsam wirklich ärgerlich, kopiert Böcker die Ausrede der Staatsanwaltschaft, die gesagt hat: 'Wir fordern ja statt der zwei Monate drei bis sechs Monate, also viiiel mehr, und damit ist das Rechtsmittel auch statthaft.' Wir hatten nun im entsprechenden Antrag über Seiten hinweg dargelegt, dass zum einen die Gründe, mit denen die StA eine Strafschärfung verlangte, durchgehend keine rechtlich anerkannten waren, und zum anderen, dass auch die Strafhöhe eben gerade nach der Rechtsprechung nicht in einem "offensichtlichen Missverhältnis" zur Forderung der StA steht. Was hat der Richter dem entgegenzusetzen? Nichts. Aber er hat ja das letzte Wort (und eben nicht der Angeklagte), und auch wenn da die Logik und die Argumente auf der Strecke bleiben - wen schert's?!

Dann kommen wir zum eigentlich Tatvorwurf, der sogenannten "Dienstflucht". Böcker fasst die Einlassung von Andreas zunächst noch recht gut zusammen, um wenige Absätze weiter offensichtlich alles wieder vergessen zu haben: "Das Gericht verkennt nicht, dass es völlig absurd ist, eine Tätigkeit in einem Kinderheim als Teil des Wehrdienstes anzusehen." Nun hatte von "Teil des Wehrdienstes" niemand gesprochen, dies ist nur der Phantasie des Richters zuzuschreiben; wohl aber von "Teil der Wehrpflicht" - und das ist gesetzlich geregelt in § 3 Abs. 1 S. 1 WPflG: "Die Wehrpflicht wird durch den Wehrdienst oder ... durch den Zivildienst erfüllt." Aber auch hier ist es halt einfach, etwas zu erfinden, um dann zu sagen, dies sei "völlig absurd" - der Angeklagte kann ja nicht mehr korrigierend eingreifen...

Aber auch sonst reicht der geistige Horizont nicht zu weit: "Offenbar kann er es aber unschwer mit seinem Gewissen vereinbaren, durch eine unterlassene Behandlung diese Soldaten erheblichen Gefahren auszusetzen." Da erklärt ein Richter einem Totalverweigerer, der jede Kriegsbeteiligung unmissverständlich jetzt (in der Planung) und in Zukunft (im Krieg) ausschließt, dass er durch die Weigerung, sich etwa an der Verwundetenversorgung eines Soldaten zu beteiligen, diesen "erheblichen Gefahren" aussetze! "Erheblichen Gefahren"!!! Dass die "erhebliche Gefahr" für Leib und Leben ganzer Bevölkerungen vom Soldaten und Krieg ausgeht, und es gerade darum geht, diese Gefahr einzudämmen, scheint für einen Vorsitzenden Richter am Landgericht ein zu schwierig zu denkender Gedanke zu sein. Wichtig: Man muss ja die Auffassung des Angeklagten nicht für sich persönlich übernehmen, man mag ja Krieg als die angenehmste Form des Zeitvertreibs ansehen - aber die Gegenargumentation geistig nachvollziehen, dazu sollte man schon in der Lage sein, bevor man mit der Keule des Strafrechts zuschlägt!

Juristisch hemdsärmelig wird es wieder, wenn der Richter begründet: "§ 53 ZDG ist daher mit dem Grundgesetz vereinbar." Hat jemand je etwas anderes behauptet? Nein. Die Frage, ob eine Strafnorm verfassungsgemäß ist, ist eine völlig andere als die, ob eine Bestrafung im Einzelfall bei Vorliegen einer Gewissensentscheidung verfassungsgemäß ist. Das ist nun nicht gerade Haarspalterei, sondern gröbstes juristisches Handwerk, was Böcker (und man muss leider sagen: einzelne Strafrichter immer wieder) nicht beherrscht. Gerade die vorgetragene Entscheidung des BVerfG im sog. "Gesundbeterfall" ist ein sehr einfaches Beispiel hierfür: Natürlich wurde dort nicht erklärt, dass die Strafnorm der unterlassenen Hilfeleistung verfassungswidrig sei, sondern dass die Verurteilung aufgrund dieser verfassungsgemäßen Norm sich selbst als verfassungswidrig darstellen kann, wenn der strafrechtliche Verstoß auf einer Gewissensentscheidung beruht.

Wenn Böcker meint zu erkennen, "dass derartige Totalverweigerer durchaus negative gesellschaftliche Folgen zu verantworten haben, denn im vorliegenden Fall müssen die Kinder aus dem Heim auf eine Betreuungsperson verzichten", dann hat er leider wieder einmal nicht aufgepasst: Der Zivildienst hat arbeitsmarktneutral zu sein; selbstverständlich haben die Kinder ein Recht darauf, eine Betreuungsperson zu haben, vielmehr noch: Sie haben ein Recht darauf, eine ausgebildete Betreuungsperson zu haben, eine, die freiwillig diesen Job macht, und nicht eine Betreuungsperson, die dazu unter Strafandrohung gezwungen wird. Nun gilt hier wie oben: Man muss das nicht so sehen. Man kann sich auch auf einen antisozialen Standpunkt stellen und sagen: 'Kinder haben gar keine Rechte, und wenn sie einen Betreuer bekommen, dann bitte höchstens Zwangsarbeiter.' Kann man machen. Geht. Nicht schick, aber geht. Was aber nicht geht, ist, ein durchaus logisches und schlüssiges Argument nicht im Ansatz nachvollziehen zu können, aber zu meinen, juristisch und moralisch über den Angeklagten richten zu dürfen.

Der Rest jenes Absatzes mag gar nicht mehr kommentiert werden. Ein Richter, dessen Intelligenz ihm offensichtlich nicht gestattet, einfachste Sachzusammenhänge zu verstehen, der dann aber beim Angeklagten eine "absonderliche Gedankenwelt" ausmacht und ihm "erhebliche Reifedefizite" unterstellt, ist seines Amtes sicher nicht würdig. Vor allem aber sind solche Ausführungen eine Beleidigung und Ohrfeige für einen Angeklagten, der alle Sachargumente - und obendrein noch die Moral - auf seiner Seite hat...

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